21. Juli 2008 Die Verhaftungen mehrerer pensionierter kemalistischer Generäle als vermeintliche Putschisten in der Türkei Anfang Juli gehen, so vermuten Insider in Ankara, auch auf die Fethullahcis, die Anhänger des islamischen Predigers Fethullah Gülen, zurück. Sie haben inzwischen hohe Positionen, nicht nur in der AKP, sondern auch im Staatsapparat und der Polizei.
Wer ist Fethullah Gülen? Geboren wurde er 1941 in der Nähe der Stadt Erzurum im Osten Anatoliens. Er ging auf die Koranschule, wurde mit achtzehn Jahren Imam der türkischen Religionsbehörde, schloss sich der Nurculuk-Licht-Bewegung des Sufi-Predigers Said Nursi an, kam wegen islamistischer Umtriebe nach dem Putsch 1971 für sechs Monate ins Gefängnis und blieb trotzdem bis nach dem Militärputsch 1981 als Prediger im Staatsdienst. Er gründete dann seine eigene, dem Mystizismus und Sufismus zugewandte Bewegung, die sich auf eine Verbindung von Islam und türkischem Nationalismus, den „Turanismus“, beruft und im Geheimen Welteroberungstheorien verbreitet.
Eine Sekte mit Konzernstruktur
Gülen hat einen weltweiten Verbund von Stiftungen und Schulen gegründet, der vor allem die neue muslimische technische Intelligenz heranbilden soll und wie eine Art Geheimsekte agiert. Deren öffentlicher Arm wird durch auflagenstarke Zeitungen wie die türkische „Zaman“ repräsentiert. Nach außen hin vertritt er eine Art Islam light, nach innen propagiert er einen machtbewussten islamischen Chauvinismus.
Dem Westen gegenüber versucht er zum Beispiel in der „Welt-Ethos“-Bewegung des katholischen Schriftstellers Hans Küng durch Friedensappelle internationales Renommee zu erlangen. Er vertritt jedoch unverblümt die These von der Überlegenheit des Islams gegenüber jeder anderen Religion. Seine Bewegung ist in Japan über Russland bis Deutschland und in der Türkei aktiv; sie verfügt über Universitäten, Fernsehsender, eine Bank, Versicherungen, Zeitungen, einen Unternehmerverband und Gewerkschaften. Fethullahci, wie sich Gülens Anhänger nennen, haben inzwischen Positionen bis in höchste türkische Regierungskreise.
Eine „unfassbare“ Bewegung
„Die Nurculuk-Bewegung versteht sich als religiöse Reformbewegung, die moderne Technologie und Islam miteinander verbinden will. Mittlerweile gehören der ,Islamischen Gemeinschaft Jama'at un-Nur' (Lichtjugend) bundesweit circa vierzig Medresen, theologische Ausbildungsstätten, an. So zum Beispiel das Feyza-Bildungszentrum Duisburg. Die Zahl der Anhänger dieser Bewegung liegt in Deutschland zwischen fünf- und sechstausend. Eigenen Angaben zufolge soll die Bewegung weltweit circa 1,5 Millionen Anhänger in mehr als sechzig Ländern haben. Die Gesamtleitung liegt bei einer Arbeitsgemeinschaft ,gleichberechtigter Brüder' in Istanbul“ - so schätzt das Bundesfamilienministerium die Situation ein.
1999 wurde in der Türkei eine Rede Gülens bekannt, in der er seinen Anhängern Anleitungen für den Marsch durch die Institutionen gab und sie aufforderte, sich konspirativ zu verhalten, bis die Zeit für die Machtübernahme gekommen sei. Die Rede wurde bekannt, Gülen setzte sich in die Vereinigten Staaten ab, um einer Verhaftung durch das Militär zuvorzukommen. Dort lebt er seitdem. Ganz nach den Regeln der Konspiration hat seine Sekte keine zentrale Organisation. Ein Verbot könnte sie nicht treffen, denn es gibt nur persönliche Verbindungen zwischen den Brüdern und Schwestern. Man arbeitet mit Paten und Bürgen, informell und per Internet. Die Bewegung ist „unfassbar“, wie der Islamwissenschaftler Ralph Ghadban feststellt.
Diskrete Organisationsformen
Ich selbst habe lange gebraucht, um hinter die Arbeitsweise dieser Organisation zu kommen. Wir hatten vor Jahren eine Austauschstudentin bei uns zu Gast. Die junge Frau hatte in der Türkei Betriebswirtschaft studiert und wollte in Deutschland promovieren. Sie trug weder Kopftuch, noch betete sie oder zeigte sich mir gegenüber an religiösen Themen interessiert. Das Einzige, was sie täglich tat, war, Texte der türkischen Zeitung „Zaman“ online ins Englische zu übersetzen. Ein Studentenjob, wie sie sagte, um ihr Studium zu finanzieren. Aus anderen Zusammenhängen erfuhr ich, dass sie eine Fethullahci ist.
Sie zog dann in eine Studentinnen-WG. Als ich sie dort einmal überraschend besuchte, traf ich auf eine durch und durch islamische Gemeinschaft. Sie reiste für ein paar Tage nach Paris oder mal nach London, immer zu „Freunden“, von denen sie aber auf nähere Nachfrage nichts erzählen konnte oder wollte. Nach einem Jahr heiratete sie plötzlich. Ihr Professor in Istanbul hatte ihr einen Studenten als Bräutigam vermittelt, der ebenfalls zur Bewegung gehörte. Nurculuk arrangierte die Ehe, und ihre Eltern waren einverstanden. Sie ist in die Türkei zurückgegangen und wird an einer Gülen-Schule unterrichten.
Vorgebliche Modernität
Der Ansatz der Bewegung scheint auf den ersten Blick durchaus modern. Es geht darum, dass die Muslime alle Errungenschaften der Wissenschaft in sich aufnehmen, damit sie mit dem Westen konkurrieren können. Daran ist nichts Falsches, und die Bewegung könnte als Vorzeigeobjekt eines Reformislams gelten, der sich ja sonst der Moderne verweigert. Betrachtet man aber die Schriften von Fethullah Gülen, zeigt sich eine zutiefst dogmatische und reaktionäre Denkweise. Er schreibt: „Koran und Hadith sind wahr und absolut. Wissenschaft und wissenschaftliche Fakten sind wahr, solange sie mit Koran und Hadith übereinstimmen. Sobald sie aber eine andere Position einnehmen und von der Wahrheit von Koran und Hadith wegführen, sind sie fehlerhaft. Selbst zweifelsfrei etablierte wissenschaftliche Fakten können nicht die Säulen sein, auf denen die Wahrheiten des imam (Glauben) ruhen. Nicht die Wissenschaft lässt die Wahrheit erkennen, sondern der Glaube an Allah, aus der Rechtleitung Gottes . . .“
Diese Art des Denkens führt zu der Erkenntnis, dass im Koran bereits alles steht, dass alles vorherbestimmt ist. So gebe der Koran zum Beispiel Hinweise auf das unsichtbare Wirken dessen, was heute Physik genannt wird: auf Anziehung und Abstoßung oder auch Rotationen und Umbrüche im Universum. Der Beweis laut Gülen ist die 13. Sure, Vers 2 des Korans: „Allah ist es, der die Himmel, die ihr sehen könnt, ohne Stützpfeiler emporgehoben hat.“ Oder Sure 22, Vers 65: „Und er hält den Himmel zurück, damit er nicht auf die Erde fällt, es sei denn mit seiner Erlaubnis.“
Intellektueller Despotismus
Auf die Frage, warum die meisten wissenschaftlichen Erkenntnisse dann nicht von Muslimen stammen, erklärt er, das „Geheimnis des wissenschaftlichen Vorsprungs der islamischen Welt ab dem 12. Jahrhundert“ liege im Islam, weil er das „Gefühl der Armut und Machtlosigkeit vor dem ewigen allmächtigen Schöpfer des Kosmos habe“. Der Rest sei „intellektueller und wissenschaftlicher Despotismus“, westlicher Fanatismus, Kolonialismus et cetera, die die Welt nicht besser, sondern schlechter gemacht haben, weil sie nicht dem Koran folgen.
Das Weltbild Gülens setzt sich aus solchen Argumentationen zusammen. Dass er mit derselben Verve die Existenz von Engeln und Dschinn beweist, ist dann nur folgerichtig. Es sind dieselben Argumente, die vom Scharia-Islam her kennen. Gülen macht nur eines anders als die fatalistisch an die Vorsehung Glaubenden: Er fordert seine Anhänger auf, sich die Welt der Ungläubigen aktiv anzueignen, um sie im Namen des Islams beherrschen zu können. Es geht ihm darum, die gottgewollte und natürliche Herrschaft des Islams über die Welt zu erlangen, weil „sich alles dem Menschen fügen wird, solange dieser sich Allah fügt“.
Warten auf die rechte Stunde
Gülens Gefolgsleute sind die intellektuellen Vordenker der AKP. Sie arbeiten mit dem Wissen des Westens; Freiheit und Demokratie sind dabei Instrumente zur Erlangung und Bewahrung von Einfluss und Macht. Die türkischen Parteien insgesamt sind keine Organisationen von Demokraten, sondern Lobbyisten, die das demokratische System benutzen, um ihre Gruppen- und Einzelinteressen durchzusetzen. Seit Bestehen der Türkischen Republik wurden Dutzende Parteien, Bewegungen oder Orden gerichtlich verboten oder vom Militär zerschlagen. Die AKP muss sich aktuell mit einem Verbotsantrag von kemalistischen Staatsanwälten auseinandersetzen. Die Fethullahcis haben sich auf diese Situation eingestellt, sie arbeiten konspirati und warten, bis ihre Zeit gekommen ist.
Die Arbeit mit Laien, die von der Bewegung bestimmten Lebenspläne der Anhänger, die Verschwiegenheit gegenüber Außenstehenden erinnern in vielen Punkten an das Muster des katholischen Ordens Opus Dei. Auch der Einfluss der Fethullahcis ist nicht zu unterschätzen, denn die überwiegende Mehrheit von ihnen gehört zur jüngeren türkischen Intelligenz. Gülens Bewegung ist die einflussreichste politisch-religiöse Geheimorganisation in der Türkei. Sie wird in den kommenden Monaten ihren Einfluss bei der Auseinandersetzung um die Zukunft des Landes nutzen.
Dass sie gut organisiert und mobilisierbar ist, veranschaulicht eine kleine Geschichte. Die Redakteure des britischen Magazins „Prospect“ wunderten sich, als sie im Juni ihre Internetumfrage zu den „Top 100 Intellektuellen der Welt“ auswerteten: Lagen zu Beginn noch Mario Vargas Llosa, Al Gore und Gary Kasparow Kopf an Kopf mit Noam Chomsky, dem Gewinner der Umfrage aus dem Jahr 2005, änderte sich dies kurz vor Schluss. Da gingen bei der Internetumfrage plötzlich mehr als 500.000 Stimmen ein. Sie stellten die Welt der westlichen Intellektuellen auf den Kopf. Als Top-Intellektueller der Welt gilt seitdem der Türke Fethullah Gülen.
Montag, 21. Juli 2008
Necla Kelek gegen die Barbarei
Die bekannte deutsch-türkische Publizistin Necla Kelek hat heute in der FAZ einen wunderbares Beispiel einer Hintergrundberichterstattung abeliefert. Es geht um den türkischen Sektenführer Fethullah Gülen, der wie Erdogan die einst laizistische Türkei ins islamisch-mittelalterliche Nirvana befördern will. Es wäre ein Frevel, diese Geschichte nur zu zitieren, deswegen hier in voller Länge und ungekürzt: Der Beweis, dass guter Journalismus nicht moralintriefend, belehrend und fürsorglich zu sein hat. Es sind die Fakten, die zählen und nicht die eventuelle Reaktion des Lesers darauf.
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